So denkt ein Teenager

Ein 17jähriger erklärte mir seine Welt. Er lag im Krankenhaus und teilte sich das Zimmer mit einem meiner Kinder. Als er nicht einschlafen konnte, begann er von seinem Freundeskreis und dem eigenen Leben zu erzählen.

„Wir suchen nach der wahren Liebe und um uns herum zerbricht alles.“

„Es ist alles so oberflächlich!“, beklagte er. „In der Schule finden immer nur diese Vergleiche statt. Wer ist cooler? Wer hat mehr sexuelle Erfahrungen gesammelt? Und immer nur Äußerlichkeiten. Außerdem muss alles schnell gehen. Längere Beziehungen sind uncool, aber diese kurzen Sachen machen einen nicht glücklich.“

Finn

Interessant, wenn solche Worte von einem zweifellos gefragten Jungen kommen. Groß, sichtbar sportlich und schlau – keine Frage, die meisten Mädchen mussten ihn attraktiv finden. Viel überraschender fand ich jedoch, dass er bei all seinen klugen Worten und gut erläuterten Klagen, nicht auf die Idee kam, auch Mädchen könnten mit so manchem Getue verletzt werden. Auf meinen Hinweis, für Mädchen seien die Situationen, die er beschrieb, auch nicht toll, reagierte er überrascht. „So wie du das sagst, habe ich es noch nicht gesehen. Vielleicht hast du recht.“ Kurze Pause. „Aber viele von ihnen machen einen auf billig. Ernsthaft. Die Mädchen erzählen sich sogar, mit wem von uns sich eine Nummer lohnt“, klärte er mich auf und blickte in sich gekehrt zur Decke. „Weißt du, mein Ziel ist, eine Partnerin zu haben, mit der ich alt werden kann. Es ist aber nicht einfach, so ein Mädchen zu finden.“ Während er sprach und ich dachte, dass er doch erst 17 sei und noch alle Zeit der Welt habe, der passenden Frau über den Weg zu laufen, wurde mir bewusst, dass ich in seinem Alter ähnlich dachte. Einiges verändert sich nicht. Egal wie die Gesellschaft ist, in der wir leben und wieviele Generationen dazwischen liegen, manche Bedürfnisse ändern sich nicht. Vieles von dem, was wir uns als Teenager wünschten, suchen auch die heutigen Jugendlichen. Was sich verändert, sind die Umstände – und diese wirken wiederum auf uns ein.

Finn unterbrach meine Gedanken. „Mensch, wir suchen sehnsüchtig nach der wahren Liebe und um uns herum zerbricht alles. So viele Eltern lassen sich scheiden und die Väter vernachlässigen uns. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viele in meinem Freundeskreis schon Selbstmordgedanken hatten! Das Einzige, was mir Mut macht, ist der Blick auf meine Großeltern, die alt sind, sich aber immer noch lieben. Das sieht man! Die sind großartig.“

Man konnte Finns Kopf arbeiten hören. Er machte sich Sorgen um andere Teenager aus seiner Verwandtschaft und aus seinem Freundeskreis. „Ich weiß, wie es ist, wenn der eigene Vater sich keine Zeit für einen nimmt“, bemerkte er. „Inzwischen kann ich damit umgehen, aber ein kleines Mädchen – meine Cousine – ist noch zu jung, um damit klarzukommen. Ihr geht das Desinteresse ihres Vaters noch richtig unter die Haut. Die Eltern haben sich getrennt und der Vater will sie nicht sehen, weil sie das Gesicht ihrer Mutter hat. Er lebt inzwischen mit einer anderen Frau zusammen. Schlimm ist, dass er nur die Tochter nicht sehen will, aber die Söhne gerne an den Wochenenden zu sich nimmt. Erklär das mal diesem Mädchen! Weißt du, wie sich die Kleine fühlt? Ich bin der Einzige, auf dessen Meinung sie hört, weil ihr klar ist, dass ich Ähnliches erlebt habe. Deshalb versuche ich ihr Mut zu machen und zu erklären, dass ihr Lebensglück nicht von dem Typen abhängt.“ Wenn Finn von Scheidung und Beziehungen zwischen Kindern und ihren Eltern sprach, war er mit Leidenschaft dabei.

„Was mir Mut macht, ist ein Blick auf meine Großeltern.“

Finn erzählte jedoch nicht nur aus seinem Leben, sondern stellte mir auch Fragen. „Ist der Mann, der vorhin hier war, also dein Ehemann, der Vater deiner Kinder? Oder eines deiner Kinder?“ – „Von beiden“, gab ich zur Antwort und wunderte mich merklich über die Frage. „Hat mich nur so interesssiert. Ist ja nicht selbstverständlich“, erklärte er.

Wir unterhielten uns stundenlang. Es war seine letzte Nacht und meine erste Nacht im Krankenhaus. Während ich vor Sorge um mein Kind nicht schlafen konnte, hielt ihn die Vorfreude auf seine Entlassung wach. Endlich könnte er wieder Sport treiben. Vielleicht vertraute er mir auch deshalb so viel an, weil er dachte, dass ich im sozialen Bereich tätig und, wie er später erwähnte, „von Berufswegen Gesprächspartnerin für Jugendliche“ bin.

„Es hat gut getan, sich mal so richtig auszusprechen“, sagte er am nächsten Morgen. „Man kann nicht mit jedem so reden wie mit dir. Du solltest das irgendwie beruflich machen.“ Die spürbare Aufrichtigkeit seiner Worte tat gut. Auch mir hatte das Gespräch viel gebracht – nämlich einen Blick auf die Probleme der heutigen Jugend aus der Sicht eines Jungen. Nie hätte ich mit soviel Offenheit und Bedürfnis zu einem intensiven Gespräch gerechnet. Finn hatte mich überrascht.

Lustig wurde es aber auch – nicht zuletzt als im Laufe des Vormittages seine Mutter ins Zimmer kam. Die hübsche Frau wirkte kaum älter als ich. Sohn und Mama sahen sehr schön nebeneinander aus, wie Freunde. Als sie kurz den Raum verließ, um mit einer Krankenschwester zu sprechen, konnte ich mich nicht zurückhalten. „Finn, du hast eine sehr attraktive, junge Mutter“, sagte ich. Er machte große Augen. „Danke, hübsch ist sie, aber jung? Eher ziemlich alt. 39 schon!“

Ich lachte laut. „Das ist doch nicht alt!“

Er wirkte irritiert. „Wie alt bist du denn eigentlich?“

„37*.“

 

Wenig später verabschiedeten wir uns. Mit der Türklinke in der Hand, blickte Finn in den Raum zurück. „Man sieht sich zweimal im Leben.“

 

*Inzwischen bin ich 38. Das Gespräch liegt über ein Jahr zurück und war schon lange als Text auf meinem Laptop gespeichert. Kürzlich habe ich ihn zufällig entdeckt und nun mit Euch geteilt. Zu dem Titel hat übrigens mein Sohn geraten, der selbst fast ein Teenager ist.

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